Rätselhafter Song "Nature Boy": Wie ein Obdachloser einen Nummer-eins-Hit schrieb (2025)

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Applaus brandete durch das New Yorker CBS-Fernsehstudio, als Orchesterklänge den Stargast der Talkshow "We the People" ankündigten. Der Vorhang öffnete sich, ein strahlendes Nummerngirl hielt das Schild hoch: "Nature Boy". Das genügte.

Diesen Namen kannte 1948 fast jeder Amerikaner. Es war der Titel einer mysteriösen Ballade, mit der Nat King Cole Musikgeschichte geschrieben hatte: fast eine Million verkaufter Platten im ersten Monat - ein Rekord. Und die Massen weiterer Tonträger und Coverversionen von Stars wie Frank Sinatra, Miles Davis oder Lady Gaga, die folgen sollten, erahnte da noch keiner.

Allerdings hatte Cole den Megahit nicht selbst geschrieben, sondern ein geheimnisvoller Eremit aus den Hügeln vor Los Angeles. Er hatte dem Jazz-Star den Song hinterlegt, war einfach verschwunden, hatte eine wochenlange Suchaktion ausgelöst. Auf dieses Phantom warteten nun alle im Studio. Der Moderator rief: "Er ist ein Student orientalischer Mythogie, ein frommer Yogi - und Komponist des Nummer-eins-Hits 'Nature Boy': Eden Ahbez!"

Hinter ihm schlurfte ein langhaariger Hipster mit seinem Rennrad auf die Bühne und hockte sich auf den Boden. Der Mann mit der sonnengebleichten Mähne und dem Vollbart wirkte wie aus einer Zeitmaschine: In San Francisco oder im Prenzlauer Berg wäre er 60 Jahre später kaum aufgefallen - im Nachkriegsamerika der Vierzigerjahre wirkte er wie ein Alien. So wie der Junge in seinem Song:

"There was a boy / A very strange, enchanted boy / They say he'd travelled very far / Very far, over land and sea / A little shy - and sad of eye / But very wise was he"

Der Moderator hockte sich neben ihn auf die Bühne: "Wie haben Sie diesen Song geschrieben?" Erstarrt wie ein Reh im Scheinwerferlicht blickte Ahbez geradeaus - auf ein Blatt Papier. "Dwight", las er ab, "Nature Boy ist in Wahrheit die Geschichte meines Lebens."

Nat King Cole - Nature Boy

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Wer genau Eden Ahbez war, ist nicht leicht zu entziffern - und war es schon für seine Zeitgenossen nicht. Man könnte sagen: Er war ein Entwurzelter. 1908 in Brooklyn als eines von 13 Geschwistern geboren, wuchs er in Armut auf. Wie viele seiner Geschwister wurde er früh an Pflegeeltern weggegeben. Mit acht kam er auf eine Farm in Kansas und erhielt einen neuen Namen: George McGrew. Er ging zur Schule, lernte Klavier spielen, las über fernöstliche Philosophie.

Doch mit 14 zog es ihn fort aus diesem geordneten Leben: Er trampte oder sprang auf Frachtzüge und durchquerte so achtmal die USA. Er schrieb Gedichte, manchmal schlich er sich nachts in Kirchen und spielte Klavier, um sie zu vertonen. Er gab sich den Namen eden ahbez, kleingeschrieben - denn nur Gott und die Unendlichkeit, fand er, verdienten es, großgeschrieben zu werden.

Man könnte auch sagen: Eden Ahbez war ein Hippie - vor den Hippies. Er praktizierte Yoga, lange bevor sich im Westen jemand dafür interessierte. Er lebte unter freiem Himmel, schnitzte Flöten aus Ästen und aß Früchte, die er fand, wie später die Beatniks und Blumenkinder. Im Kalifornien der Vierziger nannte man diese Langhaarigen, die nach Ideen der deutschen "Lebensreform"-Bewegung leben wollten, "Nature Boys".

Frank Sinatra - Nature Boy

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Für den Türsteher des Lincoln Theatre hingegen war Ahbez vor allem eines: ein exzentrischer Spinner, der hier auf keinen Fall reinkam. An diesem Tag im Jahr 1947 wartete im Theater in South Central Los Angeles Jazzsänger Nat King Cole auf seinen Auftritt. Da erschien vor dem Eingang Ahbez, der mit seinen Roben, Locken und dem Bart aussah wie ein etwas zierlicher Jesus-Imitator. Er wedelte mit Notenblättern und verlangte, Cole zu sprechen. Der Türsteher verneinte. Ahbez verschwand erst, als er die Noten einem Bühnenarbeiter übergeben konnte, der sie an Cole weiterzureichen versprach. Und es auch tat.

Nat King Cole war begeistert. Diese schwermütigen Klänge schienen in seltsamem Widerspruch zum Text zu stehen:

"The greatest thing you'll ever learn / Is just to love and be loved in return"

Ging es um romantische Liebe? Um die Suche nach Gott? Cole spielte es vor Publikum - das den Song liebte. Er wollte ihn aufnehmen, doch dazu musste er den Urheber finden. Den Schrat, der aus dem Nichts gekommen war. Nur hatte der seinen Wohnsitz auf dem Papier nicht vermerkt. Er hatte ja keinen.

Er lebte unter einem L von Hollywood

Nach Wochen verzweifelter Suche fand man ihn, unter einem der L des "Hollywood"-Schriftzugs. Dort lebte er unter freiem Himmel, mit seiner Frau Anna. In einer Cafeteria hatte Ahbez sie gesehen, schnell seinen Namen und die Adresse, wo er gerade schlief, aufgeschrieben und ihr in die Hand gedrückt - zum Entsetzen ihres Bruders: "Für mich war Eden fremdartig und bizarr." Anna Jacobson jedoch, frustriert vom Leben als Geschäftsfrau, erschien er "verwunschen und exklusiv". Kurz darauf heirateten sie.

George Benson - Nature Boy

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Für Eden war Anna eine "alte Seele", die er "schon sein ganzes Leben geliebt" habe und die seine Vision von Freiheit teilte. Sie lebten als Vagabunden, mal unter einem Pfirsichbaum am Straßenrand, mal in einer Gartenparzelle, meist im Tujunga Canyon nördlich von Los Angeles. Einen Schlafsack, ein Handtuch, drei Trinkbecher, zwei Messer, eine Saftpresse und ein Rennrad - mehr besaßen sie nicht. Als Eden am Tag ihrer Hochzeit in einem Müllhaufen 261,67 Dollar fand, war das für sie ein Vermögen.

Das sollte sich ändern, als Vertreter von Capitol Records sie fanden. Im März 1948 erschien "Nature Boy" mit einem Streicherarrangement, ein sensationeller Erfolg. In einem Monat verkaufte sich der Nummer-eins-Hit eine Million Mal und warf höhere Tantiemen ab als jeder andere Song des Jahres. Die eigentümlich wehmütigen Klänge faszinierten Zuhörer. Der SPIEGEL warnte gar im September 1948, es handele sich um ein "Lied mit tödlicher Wirkung", denn die sentimentale Melodie und der Text hätten eine so melancholisierende Wirkung, dass sie bereits drei Frauen und vier Männer zum Selbstmord veranlassten.

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Für Nat King Cole wurde es ein Schlüsselsong, um im schwelenden Rassismus der USA als Schwarzer ein weißes Publikum für sich zu gewinnen. "Nature Boy" etablierte Cole als Solokünstler. Wenn auch mit bizarren Mitteln: Für die TV-Aufführung schminkte man Cole hell - offenbar, um Rassisten im Publikum zu beschwichtigen.

Ahbez war völlig unvorbereitet auf den Erfolg. Geschäftsmann wollte er nie sein - prompt übervorteilte man ihn: Songwriter Irving Berlin hatte schon vor Veröffentlichung 50 Prozent der Rechte erworben, an Nat King Cole ging ein weiteres Viertel, ein Achtel überließ Ahbez zum Dank dem Angestellten Coles, der in Los Angeles seine Notenblätter weitergereicht hatte. Nur ein Achtel blieb Ahbez: immer noch 30.000 Dollar allein für 1948 (inflationsbereinigt entspräche das heute rund 320.000 US-Dollar).

Reichtum und Ruhm reizten ihn nicht. "Es geht nicht so sehr darum, was man will", sagte er 1948 dem "Life"-Magazin, "sondern wie man sich von dem fernhält, was man nicht will." Als man ihn nach New York einflog, um ihn in der Talkshow "We The People" vorzuführen, wollte er im Central Park statt im Hotel schlafen. Auf die Frage der "Los Angeles Times", was er mit dem Gewinn mache, sagte er, er werde "das Geld irgendwohin packen, wo ich nicht rankomme". Vielleicht habe er ja irgendwann Verwendung dafür.

Ahbez war ein Star wider Willen. Er gab Fans Autogramme, "Life" machte ein Fotoshooting im Gebirgsbach. "Wie die Geier" hätten sich die Medien auf ihn gestürzt, sagte Ahbez' Schwager Pearl Rowe 1977. "Eden war auf nichts davon vorbereitet. Er glaubte alles, was er hörte." Man habe ihn als Exzentriker ausgestellt: "Sie wollten ihn für Filme, Werbespots, Interviews, bei denen er Ziegenmilch trinken oder von einem Baum hängen sollte."

Der Popstar wider Willen zog sich zurück

Doch dann verschwand der Mann mit dem Rauschebart aus dem Rampenlicht, so plötzlich, wie er aufgetaucht war. Er hatte eine neue Rolle gefunden.

Denn mitten im Starrummel war im Oktober 1948 sein Sohn geboren worden: Tatha Om Ahbez, genannt Zoma. Anna und Eden zogen ihn in der Natur groß, lebten von selbst angebautem Gemüse. Ab und zu ging Eden in ein Studio, oft diskutierte er mehr mit den Toningenieuren, als tatsächlich aufzunehmen. 1960 brachte er ein Album mit Gedichten zu exotischer Easy-Listening-Musik heraus: "Eden's Island". Es verkauften sich weniger als 500 Platten. Ahbez zahlte dafür mit dem Geld, das "Nature Boy" noch immer einbrachte.

David Bowie & Massive Attack - Nature Boy

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Der Song hatte sich verselbstständigt. Er war nun ein Jazz-Standard, über den Musiker von Miles Davis bis George Benson improvisierten. Aber auch Popmusiker wie Marvin Gaye, Rock'n'Roll-Star Bobby Darin oder David Bowie interpretierten "Nature Boy" immer neu. Anfang der Achtzigerjahre existierten bereits 200 Fassungen in 40 Sprachen, ständig kamen neue hinzu.

Ahbez indes machte sich rarer in der Öffentlichkeit. Gelegentlich sah man ihn in Los Angeles, wo er vielen noch ein Begriff war. Seine Barthaare wurden grauer, seine Besuche in den Tonstudios seltener. Es hieß, er schreibe an einem Buch, seinem Opus magnum.

Das Leben spielte ihm übel mit. 1963 verlor er seine Frau Anna, Knochenkrebs. Zwei Jahre später starb Zoma, er wurde nur 17. Ahbez sagte:

"Als ich jung war, träumte ich von einem Jungen, der Gott sucht. Jetzt bin ich alt und träume von Gott, der einen Jungen sucht"

Er zog sich weiter zurück, die Sichtungen wurden seltener. Eine der letzten dokumentierten fand 1992 statt, als ein Mann ihn zufällig in der Wüste Kaliforniens traf und zu einem Interview drängen wollte. Ahbez rezitierte ein rätselhaftes Gedicht.

Am 11. März 1995 erschien eine kleine Meldung in der "Los Angeles Times": "Eden Ahbez, der im rustikalen Charme des Big Tujunga Canyon gelebt hatte, selbst nachdem er Zigtausende Dollar mit dem Hit 'Nature Boy' verdient hatte, ist an den Folgen von Verletzungen gestorben, die er in einem Autounfall bei Palm Springs erlitten hatte." Fünf Tage zuvor war der Eremit, der aus dem Nichts zum Popstar aufgestiegen war, wieder ins Nichts verschwunden.

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Author: Maia Crooks Jr

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